GreenView AD-295
Wasserdampf schlägt sich auf milchigem Glas nieder. Es bildet sich ein Tropfen, der sich mit weiteren verbindet und immer größer wird. Die Schwerkraft zieht an ihm, lässt ihn das Glas entlang gleiten - immer schneller, bis er sich schließlich mit dem heißen Kaffee vermischt und verschwindet. Als wäre er nie da gewesen. Und doch ist er nicht wirklich weg. Die Kaffeemaschine läuft seit dem frühen Morgen. Wie jeden Tag. Sie röchelt und zischt, als würde sie jederzeit ihren Dienst quittieren.
Das Büro ist klein, aber es reicht für die dreiköpfige Crew von GreenView Solutions, die für die Koordination und Überwachung der Testanlage für innovative Forschung und Entwicklung abgestellt wurde.
Zusammen verfolgten die drei Männer Tag ein und Tag aus die Flüge der Prototypen und Testläufe bestehender Modelle der ARC-Serie. Die Firmenleitung verspricht sich von der Einführung der zweiten Version von ARC einen ebenso großen Erfolg wie von der ersten Generation - zumal auch staatliche Förderungen im Raum stehen. Viel zu tun haben die Kollegen aber nicht. Die meiste Arbeit wurde von komplexen KI Systemen gesteuert, weit ab des Einsatzgebietes, versteckt in riesigen Rechenzentren - unerreichbar, aber doch überall.
Das System lässt die die Drohnen quasi selbstständig verschiedenste Routen abfliegen, sowie Aufgaben und Routinen absolvieren. Mehrere Monitore an der langen Wandseite des Raumes zeigten Flugrouten und Statistiken - bunte Linien auf blau eingefärbten Luftaufnahmen der Testanlage, unterteilt in kleinere Sektoren. Die Anlage selbst ist flächendeckend mit Bodensensoren, Lidar-Einheiten und Kameras mit Infrarotsensoren ausgestattet – montiert auf flexiblen Masten, die sich wie dürrer Bambus im Wind wiegen. Der Raum, erfüllt von blauem Licht der Bildschirme und dem bitteren Geruch von Kaffee, wirkte wie eine surreale Welt aus moderner Hochtechnologie, veralteten Maschinen und Menschen, die längst überflüssig erschienen.
"Niko, ich geh mal eine rauchen. Funk mich an falls etwas passiert!" ruft Jens Malovic lauter als nötig in den Raum. Jens ist der Supervisor des kleinen Teams und schon seit Jahren für GreenView Solutions tätig. Ein alter Hase - wie man früher sagte, als es noch üblich war, dass Menschen mit Menschen gearbeitet hatten. Jens ist Ende vierzig und seit der Gründung Teil des Unternehmens, strebte aber nie höhere Ziele oder Positionen im Unternehmen an. Er ist sichtlich zufrieden mit seiner Rolle und den damit verbundenen Privilegien als Supervisor.
Nikolai, ein Drohnenpilot, kann den Spruch nach fünf Monaten im Projekt immer noch nicht witzig finden - zumal Jens ihn viel zu häufig wiederholt. Das Spannendste in den letzten Monaten war ein Leck im Dach des lieblosen Flachbaus - nach einem starken Regen bildete sich ein mittlerweile brauner Fleck am Boden. Gemeinsam mit den Kollegen warfen sie kleine Steinchen vom Vorplatz in den halbvollen Eimer. Der Verlierer musste das Mittagessen stellen. Aber nach Regen sieht es heute nicht aus. Der Wetterbericht verspricht keine Änderungen für den Standort. Das nächste Gewitter ist weit weg und wird sie nicht einmal streifen.
Gerade will Nikolai sich einen weiteren Kaffee holen, als ein dumpfer Ton, unfreundlich und abweisend, erklingt. Eine gelbe Warnung blinkt auf dem Hauptmonitor auf: "Abweichung - Flugpfad 3B, Sektor 12". Nichts ungewöhnliches. Nikolai kennt diese Meldung - das System korrigiert kleine Anomalien automatisch. Wenige Sekunden später erscheint die Systemantwort: "Korrektur erfolgt. ARC-Algorithmus kompensiert." Nikolai lehnt sich zurück. Das System ist darauf trainiert, Unregelmäßigkeiten selbstständig zu erkennen und zu beheben. Meist reichen wenige Ticks im Steuerprotokoll, um die Drohne wieder auf Kurs zu bringen.
Dann - wieder eine gelbe Warnung. "Fehlfunktion - ESC 2 - Spannungseinbruch unter Last" steht jetzt am oberen Rand des riesigen Monitors. Der elektrische Drehzahlregler des zweiten Rotors meldet eine weitere Anomalie. Einen Augenblick später springt die Anzeige auf Gelb-Rot: "Temperaturanstieg - Rückführung eingeleitet." Das System versetzt die Drohne automatisch in den Sicherheitsmodus - der Prototyp wird zur Basis umgeleitet. Ein lautes Alarmsignal unterbricht das Brummen der Server. Die Monitore springen um – Livebild, Telemetriedaten, Systemstatus. Alle aktiven Drohnen erhalten über das Sicherheitsprotokoll "Clear Sky" den Befehl zur sofortigen Rückkehr zur Basis. Nur AD-295 bleibt im Raster - als einzelner roter Punkt. Das Standardverfahren bei Fehlfunktionen sieht vor, alle aktiven Drohnen zurückzuholen, um die defekte zu isolieren. Ein Eingreifen der Mitarbeiter ist nur im äußersten Notfall vorgesehen. Solche Fälle sind sehr selten. Meist schaffen es selbst beschädigte Drohnen, dank Notfallsystem, zur Basis zurück. Nur einmal musste ein havarierter Prototyp von den Technikern geborgen werden.
"Verdammt... sie hängt in einer Schleife", murmelt Nikolai. Über die Konsole kann er jederzeit die manuelle Steuerung übernehmen. Doch ist das wirklich nötig? In den letzten fünf Monaten hat er Drohnen nur am Simulator geflogen.
Ein schrilles Klingeln lässt Nikolai zusammenzucken. Sein Kollege nimmt ab, noch bevor es ein zweites Mal klingelt. "GreenView Solutions, Zimmer am Apparat." meldet sich Rico Zimmer - jung, ehrgeizig vor kurzem wieder Vater geworden. Sichtlich nervös presst er den Hörer ans Ohr. Winzige Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Rico bemüht sich dem Redefluss der Gegenstelle zu folgen und eine Lücke im Monolog abzupassen ... "Ja wir können das bestätigen..." ... "Nein, wir..." ... "Gerade eben, sollen wir übernehmen?" ... "Verstanden". "Nikolai! Du übernimmst! Los, steh nicht rum und flieg das Ding zurück!" ruft Rico.
Überrascht, beinahe überfordert, hastet Nikolai zur Konsole und startet die Kontrollübernahme. "Ich bin verbunden!" ruft er und lenkt die Drohne auf Kurs. "Irgendetwas stimmt nicht, das Ding verliert immer wieder den Vektor, ich muss ständig korrigieren." Weitere Warnungen erscheinen auf dem riesigen Monitor. Dann eine kritische Meldung: "Kabelbrand". "Das wird nichts, ich muss notlanden!", kommentiert Nikolai seine wirkungslosen Versuch die Drohne wieder auf Kurs zu bringen. Nikolai öffnet die Kontrollkonsole und fordert eine manuelle Steuerung an – "Override 1 - aktiv". Der Bildschirm bestätigt die Teilübernahme. Doch die Steuerimpulse hinken. Die Drohne reagiert träge, driftet vom Kurs ab. "Ich brauche das Fallback-System!" Nikolai aktiviert das Emergency Manual Flight Module – ein redundantes System für totale Fernsteuerung. "Override 2 - aktiv" blinkt kurz auf... dann nichts. "Verdammt, das Notsystem startet nicht... Rotor 2 fällt aus… ich verliere sie." Die Bordkamera zeigt nur noch hektisch zuckende, verwackelte Bilder - Feld, Himmel, ein dunkler Rauchstreifen. Dann flackert das Bild. Für den Bruchteil einer Sekunde ist eine rotierende Silhouette eines der Rotorblätter zu sehen, dann - schwarz. Kein Bild. Kein Ton. "AD-295 - offline."
"Niko! Was ist hier los?", ruft Jens, während er in den Raum stolpert, die Zigarette noch in der Hand, starrt er verblüfft auf den Monitor. "Ich ... ich weiß es nicht.", stottert Rico ins Telefon. Er presst den Hörer so stark ans Ohr, dass seine Knöchel weiß durch die Haut scheinen. "Ja, sie war da - und dann nicht mehr... Entschuldigen Sie, ich weiß es doch auch nicht..." Wieder folgt eine längere Pause, von heftigem Kopfnicken begleitet. Dann antwortet er nur "Verstanden!".
Das Gespräch ist beendet. Leise kann man das Tuten des aufgelegten Anrufs hören. Rico wendet seinen Blick vom Monitor ab und schaut zu Nikolai. Ricos Gesicht zeigt Verwirrung - er muss die Situation noch verarbeiten.
"Niko, gleich kommen Techniker vorbei, Sie wollen mit dir die Drohne bergen. Ich glaub, du solltest auf was gefasst machen!" Nikolai wirft einen Blick aus dem Fenster in der Tür. Die Fahrzeuge, die sich langsam über die schlecht befestigte Zufahrt nähern, sind nicht die üblichen, die die Techniker für ihre Außeneinsätze nutzen. Irgendetwas ist anders. Nikolai versucht sich zu erinnern, wo er diese Geländewagen zuletzt gesehen hat.
Ein klappern und Knirschen durchbricht die angespannte Stille. Jens gießt sich seelenruhig einen Kaffee in seine Tasse, die einen kleinen Sprung hat, und lässt sich schwer atmend in seinen Stuhl plumpsen. "Endlich passiert mal was - und keiner funkt mich an.", meint er schmunzelnd. Jens lächelt gutmütig, beinahe naiv. "Entspann dich. Lass das die Techniker klären - bei so vielen Vögeln, da fällt schon mal einer runter". Nikolai überlegt noch kurz ob Jens mit "Vögel" die Drohnen oder die Techniker meint. Aber von Entspannung ist er jedenfalls meilenweit entfernt.
Bunte Farben mischen sich, formen immer wieder neue Muster, verzerren sich wieder, verschwinden, werden von weiteren Farben ersetzt - eine Unendliche Kombination von Möglichkeiten. So leicht, sich darin zu verlieren. Julian legt sein Kaleidoskop bei Seite, seine Mutter ruft ihn - sehr laut. Immer lauter. Sie kreischt beinahe. Wieso schmerzt sein Kopf so sehr?
Er fasst sich an die pochende Stelle. Sie ist warm... und feucht. Er zuckt zusammen... seine Finger sind blutig.
Er öffnet seine Augen. Alles ist voller Erde und der Geruch von geschmolzenen Kunststoff brennt in seiner Nase. Keine zwei Meter von ihm entfernt liegt ein zerbeulter Haufen aus Metall, Kabeln und etwas, das wie die Propeller seiner alten Modellflugzeugen aussieht - nur viel größer. Und da ist dieses Kreischen. Es kommt aus dem Haufen. Rauch steigt in den Himmel. Eine defekte Batterie?
Julian kontrolliert seinen Körper, versucht sich zu bewegen und tastet seinen Kopf ab. Sein Körper fängt an wieder zu funktionieren. Schmerzen. Vor allem am Kopf. Julian tastet erneut - die Blutung scheint nachgelassen zu haben, doch der Schmerz ist stechend. Mit Mühe richtet er sich auf. Augenscheinlich scheint er keine weiteren Verletzungen zu haben, von ein Paar Kratzer an Armen und Beinen abgesehen.
Er holt tief Luft, sein Kreislauf stabilisiert sich. Erst jetzt nimmt er seine Umgebung bewusst wahr. Der qualmende Haufen Schrott muss vom Himmel gefallen sein - und direkt neben Ihm eingeschlagen. Es hat sich sogar ein kleiner Krater gebildet.
Für ein Flugzeug ist es zu klein. Und für einen Helikopter ... zu leicht? Außerdem hätte er einen Einschlag so nah bei ihm überhaupt überlebt?
Ein paar größere Fragmente aus gebrochenem und verschmolzenem Kunststoff liegen verstreut auf der Erde. Julian greift sich ein längliches Stück und dreht es um. Darauf: Ein Logo einer Biene, die über einer Blume schwebt, sehr stilistisch - ausschließlich in hellgrün und weiß. Sie wirkt beinahe mechanisch. GreenView Solutions.
Das Unternehmen hatte vor Kurzem hier in der Gegend Land gekauft, um neuartigen Drohnen zu testen. Julian erinnert sich an einen Beitrag über GreenView. GreenView will das Bienensterben kompensieren - mit Bestäubungsdrohnen. Angeblich mit großem Erfolg. Sogar Fördergelder vom Staat waren im Gespräch.
Aber diese Drohne ist viel zu groß. Sie muss einen anderen Zweck erfüllen. Julian sitzt noch immer im Dreck und mustert die abgestürzte Drohne, als könnte sie ihm etwas erklären. Allmählich ergibt sich ein Gesamtbild, wie das Flugobjekt vor dem Aufprall ausgesehen haben muss. Aus dem aufgerissenen Batteriepack stieben Funken - typisch für einen thermischen Durchbruch bei Lithium-Polymer-Zellen. Der Rauch ist beißend, metallisch. Es riecht nach geschmolzenem Isolierlack und Verbundkunststoff.
Er sollte sich hier nicht länger aufhalten.
Julian versucht aufzustehen, gleicht ein Schwanken mit dem Arm aus und steht. Wackelig, aber noch geladen vom Adrenalin, umrundet er die Drohne. Der Akku zischt, der Kunststoff beginnt zu schmelzen.
Jetzt aber weg.
Doch noch bevor Julian sich einen Weg durch die Weizenähren bahnen kann, blitzt etwas aus der Erde hervor. Nahe bei dem Teil mit dem Bienenlogo. Julian zögert und kontrolliert noch einmal schnell die Batterie. Ein paar Sekunden bleiben ihm wohl noch. Er humpelt zu dem Blitzen, als hätte er einen Schatz gefunden. Kniet sich in die Erde und befreit den Gegenstand von Staub und Erde.
Julian hält ein halb verschmortes Sekundärmodul in den Händen - vermutlich ein autonomes Navigations- oder Sensormodul. Solche Komponenten dienten oft als Backup-Systeme, falls der Hauptprozessor ausfällt. Doch dieses hier... ist anders. Kompakter. Eigenständig. Vielleicht sogar speicherfähig?
Julians Neugier ist geweckt. Er prüft die Umgebung. Keine Seele weit und breit. Ohne Zögern steckt er das Modul in die vordere Tasche seines Rucksacks, der noch immer über seiner Schulter hängt - als wäre nichts gewesen.
"Ich hier weg" denkt er. "Das Ding steht gleich in Flammen - und das Feld dazu." Mit schmerzendem Kopf verlässt Julian die Szenerie. Ein pfeifendes Zischen lässt ihn noch einmal zurückblicken. Die Drohne brennt. Immer mehr schmilzt, was einmal eine aerodynamische Form war, zu einem rauchenden Haufen zusammen.
Julian beschleunigt seinen Schritt. Ein Gefühl kriecht in ihm hoch. Unbehagen. Als hätte jemand ganz genau beobachtet, was sich hier in den letzten Minuten abgespielt hat.
Er dreht sich noch einmal um - niemand da.
Wasserdampf schlägt sich auf milchigem Glas nieder. Es bildet sich ein Tropfen, der sich mit weiteren verbindet und immer größer wird. Die Schwerkraft zieht an ihm, lässt ihn das Glas entlang gleiten - immer schneller, bis er sich schließlich mit dem heißen Kaffee vermischt und verschwindet. Als wäre er nie da gewesen. Und doch ist er nicht wirklich weg. Die Kaffeemaschine läuft seit dem frühen Morgen. Wie jeden Tag. Sie röchelt und zischt, als würde sie jederzeit ihren Dienst quittieren.
Das Büro ist klein, aber es reicht für die dreiköpfige Crew von GreenView Solutions, die für die Koordination und Überwachung der Testanlage für innovative Forschung und Entwicklung abgestellt wurde.
Zusammen verfolgten die drei Männer Tag ein und Tag aus die Flüge der Prototypen und Testläufe bestehender Modelle der ARC-Serie. Die Firmenleitung verspricht sich von der Einführung der zweiten Version von ARC einen ebenso großen Erfolg wie von der ersten Generation - zumal auch staatliche Förderungen im Raum stehen. Viel zu tun haben die Kollegen aber nicht. Die meiste Arbeit wurde von komplexen KI Systemen gesteuert, weit ab des Einsatzgebietes, versteckt in riesigen Rechenzentren - unerreichbar, aber doch überall.
Das System lässt die die Drohnen quasi selbstständig verschiedenste Routen abfliegen, sowie Aufgaben und Routinen absolvieren. Mehrere Monitore an der langen Wandseite des Raumes zeigten Flugrouten und Statistiken - bunte Linien auf blau eingefärbten Luftaufnahmen der Testanlage, unterteilt in kleinere Sektoren. Die Anlage selbst ist flächendeckend mit Bodensensoren, Lidar-Einheiten und Kameras mit Infrarotsensoren ausgestattet – montiert auf flexiblen Masten, die sich wie dürrer Bambus im Wind wiegen. Der Raum, erfüllt von blauem Licht der Bildschirme und dem bitteren Geruch von Kaffee, wirkte wie eine surreale Welt aus moderner Hochtechnologie, veralteten Maschinen und Menschen, die längst überflüssig erschienen.
"Niko, ich geh mal eine rauchen. Funk mich an falls etwas passiert!" ruft Jens Malovic lauter als nötig in den Raum. Jens ist der Supervisor des kleinen Teams und schon seit Jahren für GreenView Solutions tätig. Ein alter Hase - wie man früher sagte, als es noch üblich war, dass Menschen mit Menschen gearbeitet hatten. Jens ist Ende vierzig und seit der Gründung Teil des Unternehmens, strebte aber nie höhere Ziele oder Positionen im Unternehmen an. Er ist sichtlich zufrieden mit seiner Rolle und den damit verbundenen Privilegien als Supervisor.
Nikolai, ein Drohnenpilot, kann den Spruch nach fünf Monaten im Projekt immer noch nicht witzig finden - zumal Jens ihn viel zu häufig wiederholt. Das Spannendste in den letzten Monaten war ein Leck im Dach des lieblosen Flachbaus - nach einem starken Regen bildete sich ein mittlerweile brauner Fleck am Boden. Gemeinsam mit den Kollegen warfen sie kleine Steinchen vom Vorplatz in den halbvollen Eimer. Der Verlierer musste das Mittagessen stellen. Aber nach Regen sieht es heute nicht aus. Der Wetterbericht verspricht keine Änderungen für den Standort. Das nächste Gewitter ist weit weg und wird sie nicht einmal streifen.
Gerade will Nikolai sich einen weiteren Kaffee holen, als ein dumpfer Ton, unfreundlich und abweisend, erklingt. Eine gelbe Warnung blinkt auf dem Hauptmonitor auf: "Abweichung - Flugpfad 3B, Sektor 12". Nichts ungewöhnliches. Nikolai kennt diese Meldung - das System korrigiert kleine Anomalien automatisch. Wenige Sekunden später erscheint die Systemantwort: "Korrektur erfolgt. ARC-Algorithmus kompensiert." Nikolai lehnt sich zurück. Das System ist darauf trainiert, Unregelmäßigkeiten selbstständig zu erkennen und zu beheben. Meist reichen wenige Ticks im Steuerprotokoll, um die Drohne wieder auf Kurs zu bringen.
Dann - wieder eine gelbe Warnung. "Fehlfunktion - ESC 2 - Spannungseinbruch unter Last" steht jetzt am oberen Rand des riesigen Monitors. Der elektrische Drehzahlregler des zweiten Rotors meldet eine weitere Anomalie. Einen Augenblick später springt die Anzeige auf Gelb-Rot: "Temperaturanstieg - Rückführung eingeleitet." Das System versetzt die Drohne automatisch in den Sicherheitsmodus - der Prototyp wird zur Basis umgeleitet. Ein lautes Alarmsignal unterbricht das Brummen der Server. Die Monitore springen um – Livebild, Telemetriedaten, Systemstatus. Alle aktiven Drohnen erhalten über das Sicherheitsprotokoll "Clear Sky" den Befehl zur sofortigen Rückkehr zur Basis. Nur AD-295 bleibt im Raster - als einzelner roter Punkt. Das Standardverfahren bei Fehlfunktionen sieht vor, alle aktiven Drohnen zurückzuholen, um die defekte zu isolieren. Ein Eingreifen der Mitarbeiter ist nur im äußersten Notfall vorgesehen. Solche Fälle sind sehr selten. Meist schaffen es selbst beschädigte Drohnen, dank Notfallsystem, zur Basis zurück. Nur einmal musste ein havarierter Prototyp von den Technikern geborgen werden.
"Verdammt... sie hängt in einer Schleife", murmelt Nikolai. Über die Konsole kann er jederzeit die manuelle Steuerung übernehmen. Doch ist das wirklich nötig? In den letzten fünf Monaten hat er Drohnen nur am Simulator geflogen.
Ein schrilles Klingeln lässt Nikolai zusammenzucken. Sein Kollege nimmt ab, noch bevor es ein zweites Mal klingelt. "GreenView Solutions, Zimmer am Apparat." meldet sich Rico Zimmer - jung, ehrgeizig vor kurzem wieder Vater geworden. Sichtlich nervös presst er den Hörer ans Ohr. Winzige Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Rico bemüht sich dem Redefluss der Gegenstelle zu folgen und eine Lücke im Monolog abzupassen ... "Ja wir können das bestätigen..." ... "Nein, wir..." ... "Gerade eben, sollen wir übernehmen?" ... "Verstanden". "Nikolai! Du übernimmst! Los, steh nicht rum und flieg das Ding zurück!" ruft Rico.
Überrascht, beinahe überfordert, hastet Nikolai zur Konsole und startet die Kontrollübernahme. "Ich bin verbunden!" ruft er und lenkt die Drohne auf Kurs. "Irgendetwas stimmt nicht, das Ding verliert immer wieder den Vektor, ich muss ständig korrigieren." Weitere Warnungen erscheinen auf dem riesigen Monitor. Dann eine kritische Meldung: "Kabelbrand". "Das wird nichts, ich muss notlanden!", kommentiert Nikolai seine wirkungslosen Versuch die Drohne wieder auf Kurs zu bringen. Nikolai öffnet die Kontrollkonsole und fordert eine manuelle Steuerung an – "Override 1 - aktiv". Der Bildschirm bestätigt die Teilübernahme. Doch die Steuerimpulse hinken. Die Drohne reagiert träge, driftet vom Kurs ab. "Ich brauche das Fallback-System!" Nikolai aktiviert das Emergency Manual Flight Module – ein redundantes System für totale Fernsteuerung. "Override 2 - aktiv" blinkt kurz auf... dann nichts. "Verdammt, das Notsystem startet nicht... Rotor 2 fällt aus… ich verliere sie." Die Bordkamera zeigt nur noch hektisch zuckende, verwackelte Bilder - Feld, Himmel, ein dunkler Rauchstreifen. Dann flackert das Bild. Für den Bruchteil einer Sekunde ist eine rotierende Silhouette eines der Rotorblätter zu sehen, dann - schwarz. Kein Bild. Kein Ton. "AD-295 - offline."
"Niko! Was ist hier los?", ruft Jens, während er in den Raum stolpert, die Zigarette noch in der Hand, starrt er verblüfft auf den Monitor. "Ich ... ich weiß es nicht.", stottert Rico ins Telefon. Er presst den Hörer so stark ans Ohr, dass seine Knöchel weiß durch die Haut scheinen. "Ja, sie war da - und dann nicht mehr... Entschuldigen Sie, ich weiß es doch auch nicht..." Wieder folgt eine längere Pause, von heftigem Kopfnicken begleitet. Dann antwortet er nur "Verstanden!".
Das Gespräch ist beendet. Leise kann man das Tuten des aufgelegten Anrufs hören. Rico wendet seinen Blick vom Monitor ab und schaut zu Nikolai. Ricos Gesicht zeigt Verwirrung - er muss die Situation noch verarbeiten.
"Niko, gleich kommen Techniker vorbei, Sie wollen mit dir die Drohne bergen. Ich glaub, du solltest auf was gefasst machen!" Nikolai wirft einen Blick aus dem Fenster in der Tür. Die Fahrzeuge, die sich langsam über die schlecht befestigte Zufahrt nähern, sind nicht die üblichen, die die Techniker für ihre Außeneinsätze nutzen. Irgendetwas ist anders. Nikolai versucht sich zu erinnern, wo er diese Geländewagen zuletzt gesehen hat.
Ein klappern und Knirschen durchbricht die angespannte Stille. Jens gießt sich seelenruhig einen Kaffee in seine Tasse, die einen kleinen Sprung hat, und lässt sich schwer atmend in seinen Stuhl plumpsen. "Endlich passiert mal was - und keiner funkt mich an.", meint er schmunzelnd. Jens lächelt gutmütig, beinahe naiv. "Entspann dich. Lass das die Techniker klären - bei so vielen Vögeln, da fällt schon mal einer runter". Nikolai überlegt noch kurz ob Jens mit "Vögel" die Drohnen oder die Techniker meint. Aber von Entspannung ist er jedenfalls meilenweit entfernt.
Bunte Farben mischen sich, formen immer wieder neue Muster, verzerren sich wieder, verschwinden, werden von weiteren Farben ersetzt - eine Unendliche Kombination von Möglichkeiten. So leicht, sich darin zu verlieren. Julian legt sein Kaleidoskop bei Seite, seine Mutter ruft ihn - sehr laut. Immer lauter. Sie kreischt beinahe. Wieso schmerzt sein Kopf so sehr?
Er fasst sich an die pochende Stelle. Sie ist warm... und feucht. Er zuckt zusammen... seine Finger sind blutig.
Er öffnet seine Augen. Alles ist voller Erde und der Geruch von geschmolzenen Kunststoff brennt in seiner Nase. Keine zwei Meter von ihm entfernt liegt ein zerbeulter Haufen aus Metall, Kabeln und etwas, das wie die Propeller seiner alten Modellflugzeugen aussieht - nur viel größer. Und da ist dieses Kreischen. Es kommt aus dem Haufen. Rauch steigt in den Himmel. Eine defekte Batterie?
Julian kontrolliert seinen Körper, versucht sich zu bewegen und tastet seinen Kopf ab. Sein Körper fängt an wieder zu funktionieren. Schmerzen. Vor allem am Kopf. Julian tastet erneut - die Blutung scheint nachgelassen zu haben, doch der Schmerz ist stechend. Mit Mühe richtet er sich auf. Augenscheinlich scheint er keine weiteren Verletzungen zu haben, von ein Paar Kratzer an Armen und Beinen abgesehen.
Er holt tief Luft, sein Kreislauf stabilisiert sich. Erst jetzt nimmt er seine Umgebung bewusst wahr. Der qualmende Haufen Schrott muss vom Himmel gefallen sein - und direkt neben Ihm eingeschlagen. Es hat sich sogar ein kleiner Krater gebildet.
Für ein Flugzeug ist es zu klein. Und für einen Helikopter ... zu leicht? Außerdem hätte er einen Einschlag so nah bei ihm überhaupt überlebt?
Ein paar größere Fragmente aus gebrochenem und verschmolzenem Kunststoff liegen verstreut auf der Erde. Julian greift sich ein längliches Stück und dreht es um. Darauf: Ein Logo einer Biene, die über einer Blume schwebt, sehr stilistisch - ausschließlich in hellgrün und weiß. Sie wirkt beinahe mechanisch. GreenView Solutions.
Das Unternehmen hatte vor Kurzem hier in der Gegend Land gekauft, um neuartigen Drohnen zu testen. Julian erinnert sich an einen Beitrag über GreenView. GreenView will das Bienensterben kompensieren - mit Bestäubungsdrohnen. Angeblich mit großem Erfolg. Sogar Fördergelder vom Staat waren im Gespräch.
Aber diese Drohne ist viel zu groß. Sie muss einen anderen Zweck erfüllen. Julian sitzt noch immer im Dreck und mustert die abgestürzte Drohne, als könnte sie ihm etwas erklären. Allmählich ergibt sich ein Gesamtbild, wie das Flugobjekt vor dem Aufprall ausgesehen haben muss. Aus dem aufgerissenen Batteriepack stieben Funken - typisch für einen thermischen Durchbruch bei Lithium-Polymer-Zellen. Der Rauch ist beißend, metallisch. Es riecht nach geschmolzenem Isolierlack und Verbundkunststoff.
Er sollte sich hier nicht länger aufhalten.
Julian versucht aufzustehen, gleicht ein Schwanken mit dem Arm aus und steht. Wackelig, aber noch geladen vom Adrenalin, umrundet er die Drohne. Der Akku zischt, der Kunststoff beginnt zu schmelzen.
Jetzt aber weg.
Doch noch bevor Julian sich einen Weg durch die Weizenähren bahnen kann, blitzt etwas aus der Erde hervor. Nahe bei dem Teil mit dem Bienenlogo. Julian zögert und kontrolliert noch einmal schnell die Batterie. Ein paar Sekunden bleiben ihm wohl noch. Er humpelt zu dem Blitzen, als hätte er einen Schatz gefunden. Kniet sich in die Erde und befreit den Gegenstand von Staub und Erde.
Julian hält ein halb verschmortes Sekundärmodul in den Händen - vermutlich ein autonomes Navigations- oder Sensormodul. Solche Komponenten dienten oft als Backup-Systeme, falls der Hauptprozessor ausfällt. Doch dieses hier... ist anders. Kompakter. Eigenständig. Vielleicht sogar speicherfähig?
Julians Neugier ist geweckt. Er prüft die Umgebung. Keine Seele weit und breit. Ohne Zögern steckt er das Modul in die vordere Tasche seines Rucksacks, der noch immer über seiner Schulter hängt - als wäre nichts gewesen.
"Ich hier weg" denkt er. "Das Ding steht gleich in Flammen - und das Feld dazu." Mit schmerzendem Kopf verlässt Julian die Szenerie. Ein pfeifendes Zischen lässt ihn noch einmal zurückblicken. Die Drohne brennt. Immer mehr schmilzt, was einmal eine aerodynamische Form war, zu einem rauchenden Haufen zusammen.
Julian beschleunigt seinen Schritt. Ein Gefühl kriecht in ihm hoch. Unbehagen. Als hätte jemand ganz genau beobachtet, was sich hier in den letzten Minuten abgespielt hat.
Er dreht sich noch einmal um - niemand da.
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